Eine Dame von Welt, sei sie gewesen. So erzählten sich die anwesenden Trauergäste. Stets elegant in Kostüm und Stöckelschuhen gekleidet. Niemand hatte sie je in Jeans und Sportschuhen gesehen. Was sie wohl heute trägt?, fragte sich einer der Anwesenden insgeheim. Ein schlanker Mann, der sehr unscheinbar wirkte fuhr sich nachdenklich durch seine ergrauten Haare. Da er nicht zu der Verwandtschaft der verstorbenen Dame zählte, saß er in den hinteren Reihen der Aufbahrungshalle. Auf seinem Schoß lag eine langstielige rote Rose, welche er mit seinen hageren Fingern ergriff. Er blickte traurig auf den Ring, den er an seinem rechten kleinen Finger trug. Ganz im Gegensatz zu seiner grauen Erscheinung, war das Schmuckstück geradezu Aufsehen erregend. Aber vor allem schien es doch eher an eine zierliche Frauenhand zu passen. Eine solche feingliedrige Hand, welche Frau Christiane Isabella von Hauenstein besaß. Bis zu ihrem Ableben stets gepflegt, perfekt manikürt ohne jegliche Makel. Die Nägel immer korrekt lackiert mit demselben Rot wie ihre schmalen Lippen. An ihrem tadellosen schlanken Finger wirkte dieser Ring weitaus attraktiver.
Christiane trug den 18-karätigen Goldring viele Jahre und nahm ihn nur selten ab. Ein Dutzend Brillanten umrahmten einen oval geschliffenen Smaragdstein. Tiefgrün schillernd, passend zu ihren Augen. Regelmäßig ließ sie das edle Schmuckstück beim Juwelier reinigen und aufpolieren. Das Erbstück ihrer Mutter lag ihr sehr am Herzen. Viel mehr noch als das gesamte Geld, das sie ebenso geerbt hatte. War sie ja nicht wirklich auf dieses Geld angewiesen.
Nun stand sie mit dunkler Sonnenbrille, heruntergezogenen Hut in einer Reihe mit all diesen Leuten an Schalter 3. Sie hatte diesen Schritt sehr lange überlegt, doch sie hatte Hunger. Der Kühlschrank zu Hause war abgeschaltet, da schon lange nichts Essbares mehr darin zu finden war. Die allerletzte Portion gekochter Nudeln verzehrte sie gestern Abend. Bis zu diesen Zeitpunkt hoffte sie, dass sie noch eine andere adäquate Lösung für ihr finanzielles Dilemma finden würde. Nachdem sie mit ihren letzten Ersparnissen Miete, Strom und Telefonrechnung bezahlt hatte, blieb ihr nichts anderes übrig als diverse Wertgegenstände zu verkaufen. Ihr Freundeskreis war überschaubar klein, und bestand eher aus oberflächlichen Bekanntschaften. Niemals wäre es ihr in den Sinn gekommen, irgendjemand dieser Menschen um Hilfe und schon gar um Geld zu bitten. War sie doch immer diejenige gewesen, die anderen unter die Arme gegriffen hatte. Sie hat es immer gerne getan, Geiz und Neid waren ihr fremd. Völlig unbekannt war ihr jedoch auch die aktuelle Lage in der sie sich befand, welche sie jetzt hier in dieser Halle stehen ließ. All die Jahre war sie schon des Öfteren an diesem Gebäude vorbei gegangen. Oft standen Menschenschlangen bis auf die Straße. Im Augenblick war sie selbst ein Teil dieser Schlange an verzweifelten Leuten. Natürlich hätte sie sich längst um Arbeit bemühen können. Doch mit 55 Jahren beim Arbeitsamt vorzusprechen kam für sie noch weniger in Frage, als ins Pfandhaus zu gehen.
Der Smaragdring zierte nach wie vor ihren Finger. Sie spielte daran nervös in der Manteltasche herum. Mit gesenktem Kopf näherte sie sich Schritt für Schritt dem Mann hinter der Glasscheibe. Vorsichtig lugte sie hinter der Sonnenbrille um sich, keineswegs sollte sie hier jemand erkennen. Sie durchlebte wohl den peinlichsten Moment ihres bisherigen Lebens. Lediglich ein Mann stand noch zwischen ihr und dem Pfandleiher. Im grauen Mantel und ohne jegliche erkennbare Emotion im Gesicht, erschien er wie ein Roboter der sich in Zeitlupe bewegte. Jeder einzelne Handgriff wiederholte sich stets in derselben Reihenfolge. Egal ob ihn nun die Leute Schmuck, Porzellan, Pelzmäntel, Teppiche oder auch Möbel vor die Nase stellten. Es war immer das gleiche Prozedere.
Sie legte wortlos den Ring auf das silberne Tablett, welches der Herr zu ihr hinüber schob. Am liebsten wäre Christiane jetzt unsichtbar gewesen, doch es gab kein Zurück mehr. Der Mann hinter dem Schalter steckte sich das Okular (Uhrmacherlupe) ins rechte Auge und begutachtete nun akribisch ihr Erbstück. Ein Schweißtropfen ran ihr den Rücken hinunter, sie zitterte am ganzen Körper. Aber sie blieb äußerlich ebenso emotionslos wie der Herr im grauen Mantel und schwarzen Ärmelschonern. Sie fühlte sich wie damals als kleines Mädchen, wenn sie an die Tafel gerufen wurde. Der Lehrer wäre ihr im Augenblick bei weiten lieber gewesen. Der Smaragdring landete auf einer Waage. Der graue Roboter notiere einige Zahlen auf einem Formular, suchte mit dem Finger auf einer Tabelle nach einer weiteren Ziffer. Es war soweit, die Stunde der Wahrheit war gekommen. Wieviel? Rasch unterschrieb sie den Zettel, denn sie nun ausgefüllt vor sich liegen hatte. Nun griff der Mann in die Kassa und blätterte ihr zehn Hundertschilling Scheine auf das Pult. Christiane griff nach dem Geld, als würde sie gerade etwas Verbotenes einstecken wollen. Sie knüllte es gemeinsam mit dem Pfandschein in ihre Manteltasche und lief auf die Straße.
Etwa ein Jahr später traf sie Christoph. Christoph war charmant, immer gut gelaunt, sprach kultiviert und brachte Christiane stets zum Lachen. Seitdem sie ihren Ring versetzt hatte, war sie nur selten aus dem Haus gegangen. Zu tief saß noch immer die Scham, aber vor allem war sie unendlich traurig darüber die letzte Erinnerung an ihre Mutter ins Pfandhaus gebracht zu haben. Ihre monetäre Bredouille ließ kaum Aktivitäten zu, deshalb blieb sie lieber in ihren eigenen vier Wänden. Die Wohnung war leer geworden. Viele andere Gegenstände hat sie seitdem ersten Mal im Pfandhaus versetzt. Nachdem sie wieder dort anstand, um an ein wenig Geld zu kommen, lief ihr Christoph über den Weg. Ein Windstoß hatte ihr den Hut vom Kopf geblasen. Verzweifelt lief sie ihm hinterher, doch bevor sie ihn zu fassen bekam, stand Christoph stolz mit der Kopfbedeckung vor ihr. Sie bedankte sich höflich, wollte eigentlich schon weiter gehen, als er sie spontan zu einem Kaffee in der Konditorei einlud.
Anfangs war sie gar nicht in der Laune sich mit dem Mann zu unterhalten. Sie überließ die Konversation ganz ihm. Er erzählte aus seinem Leben, fragte nur selten nach Details was ihre Person betraf. Doch Christiane empfand Christoph als angenehme Abwechslung, nach den stillen zurückgezogenen Monaten. Schon beim ersten Treffen entlockte er ihr ein schüchternes Lächeln, worüber sie selbst am meisten überrascht war. Es fühlte sich so warm an, endlich wieder mit einem Menschen beieinander zu sitzen. Diese wohlige Stimmung veranlasste Christiane auch dazu, einem erneuten Treffen nicht abgeneigt zu sein. Christoph lud sie von nun an regelmäßig zum Essen, ins Kino, in die Oper, zu Ausstellungen und vielen anderen Aktivitäten ein. Er brachte sie, wie es sich für einen Gentleman gehört auch immer nach Hause. Manchmal wollte Christiane schon gerne, dass er mit ihr in die Wohnung kam, aber sie schob es immer wieder auf. Aber sie wusste, eines Tages würde sie genügend Mut haben, um ihn nicht mehr gehen zu lassen.
„Bleib!“, flüsterte sie Christoph ins Ohr. Sie nahm ihn sanft an der Hand, sperrte die Türe zu ihrer Wohnung auf. Als sie das Licht anmachte, konnte man kurz das Entsetzen in Christophs Augen sehen. Doch er sagte nichts. Die Räume waren bis auf das Notwendigste leergeräumt. Die Wände kahl, wo zuvor noch unzählige Gemälde hingen. Ebenso der karge, kalte Fußboden den keinerlei Teppich mehr zierte. Lediglich ein Tisch, zwei Polstersessel, eine kleine Anrichte standen im Wohnzimmer. Christiane war es gleich, sie hatte nichts mehr zum Verlieren. Sie hatte alles ins Pfandleihhaus gebracht.
Christoph weinte still vor sich hin. Er griff nach dem Ring an seinem Finger. Er nahm ihn ab, las die Gravur in der Innenseite. CHRISI – Ich liebe Dich. Er hatte ihn zufällig in einer Vitrine im Pfandhaus entdeckt. Als er ihn da so unter den strahlenden Lichtern liegen sah, dachte er an die schönen geheimnisvollen Augen von Christiane. Die funkelnden Brillantsteine glitzernden wie ihre strahlenden Zähne, wenn sie lächelte. Christoph zögerte keinen Moment und kaufte diesen Ring ohne viel zu Überlegen. Er erinnerte sich an das verblüffte Gesicht von Christiane, als er ihn ihr ansteckte. Eine weitere Träne suchte sich schmerzlich einen Weg durch die Falten in Christophs Gesicht. Sie sah so glücklich, so losgelöst aus, als sie den Ring an ihrem Finger stolz vor ihm präsentierte. Alle Schatten in ihrem Gesicht waren mit einem Schlag verschwunden. Und jetzt lag sie da in dieser Holzkiste und war tot.
Die wahre Geschichte über den Smaragdring hatte sie ihm handschriftlich in einem langen Brief hinterlassen. Jetzt, wo Christoph die Bedeutung kannte, schwor er sich diese Pretiose nie mehr von seinem Finger ab zunehmen. So konnte Christiane für immer als wertvolles Kleinod bei ihm sein. Viel zu kurz war die Lebenszeit, die sie gemeinsam verbringen konnten. Die letzten Monate im Hospiz waren gleichermaßen grausam wie auch unendlich voller bedingungsloser Liebe. Sie war selbst an ihrem Sterbebett noch eine Lady gewesen. Eine Dame von Welt.
Alle Beiträge im Überblick