Mittwoch, 9. Dezember 2015

Die lieben Nachbarn



Im Februar 1985 bin ich hochschwanger mit meinem damaligen Ehemann hier in diese Wohnung eingezogen. Der Schnee taute ein wenig es roch nach Hundekot. Das ist mir als erster olfaktorischer Eindruck in Erinnerung geblieben. Die Wohnung erschien mir bei der ersten Besichtigung riesig groß und hell. Kein Vergleich zu der bisherigen etwas ab gewohnten Dachgarçonnière. Das 3stöckige Haus fügt sich mit zwei weiteren Stiegen nebenan mit vielen anderen in einer sehr großen Siedlung an der Peripherie von Wien ein. Dennoch fühlt man sich nicht beengt. Eine schmale Einbahnstraße schlängelt sich durch die Häuserreihen. Die Wohnung liegt im Erdgeschoß und eine etwa 8 m² große Loggia ist die Krönung des neuen Heimes. Gegenüberliegend eine einstöckige Reihenhaussiedlung. Viel Natur rundum. Auf unserer Stiege insgesamt 8 Wohnungen also eine übersichtliche Anzahl an Personen. Zu Beginn waren wir intensiv mit dem Einrichten beschäftigt, da ja das Baby bald kommen sollte. Wahrscheinlich haben schon damals die Hausbewohner neugierig aus ihren Fenstern geguckt, um zu sehen, wer da jetzt so einzieht. Zu dieser Zeit war ich vorwiegend mit Nest bauen und anschließend meinen Sohn versorgen beschäftigt. Mein Exmann war kein kommunikativer Mensch und eigentlich hatten wir vorwiegend seine Familie zu Besuch. Freundinnen kamen immer seltener, da er selbst die verständnisvollsten von denen,  ziemlich vergrault hat. Aus heutiger Sicht betrachtet, war es ein sehr abgekapseltes Leben ohne richtigen Kontakt nach außen. Somit wusste ich von den Mitbewohnern so gut wie gar nichts. Man hat sich gegrüßt und die Türe hinter sich geschlossen. So ging das bis zu meiner Scheidung 1997.

Unabhängig von der Trennung, wollte ich noch viele andere Dinge in meinem Leben ändern. Ich begann mit der Renovierung der Wohnung. Ich habe alle Zimmer neu gestrichen, mir ein neues Bett besorgt, die verbliebenen Möbel umgestellt und viele andere Kleinigkeiten verändert. Mein Exmann hätte am liebsten die komplette Wohnung leer geräumt, doch so viel konnte er alleine nicht schleppen. Außerdem gab es da ja auch noch Gesetze die das regelten.

In meinen nächtlichen Auffrischungsaktionen kam es dann oft vor, dass das eine oder andere Werkzeug fehlte. Zu dieser Zeit hatte ich noch keinen Führerschein und die Baumärkte waren nur sehr umständlich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Mir fiel einer der Hausbewohner ein, der jedes Jahr an seinem Auto herum geschraubt hatte, der muss doch viel Werkzeug haben. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging in den dritten Stock und klingelte. Ein Hund bellte, eine kleine Frau mit Brille öffnete die Türe. Ich erzählte ihr kurz von meiner akuten Werkzeugnot. Sie bat mich herein und erzählte mir, dass sie sich ebenfalls erst vor kurzer Zeit von ihrem Mann getrennt hatte, und deshalb auch kein Werkzeug hatte. Wir tranken Kaffee und ich hatte den Eindruck, sie war froh eine Leidensgenossin zum Reden gefunden zu haben. Auch wenn bei ihr die Trennung wesentlich friedlicher von statten gegangen war als meine, hatten wir doch eine Gemeinsamkeit. Beim Weggehen hatte ich zwar nicht den so dringend benötigten Hammer, aber ihre Zusage, dass wir in Zukunft gemeinsam was unternehmen könnten. Es kam nie dazu, warum weiß ich nicht wirklich. Vielleicht weil ich in den kommenden Jahren viel unterwegs war und sie auch sehr oft abwesend war.

1998 hatte ich endlich meinen Führerschein. Das erste Einparken vor meinem Haus war mühsam. Ja, Frauen und einparken ;-) Schweißgebadet aber stolz recht passabel das Auto abgestellt zu haben ging ich in meine Wohnung. Kaum hatte ich die Türe geschlossen, klingelte es an meiner Türe. Die Nachbarin von gegenüber stand  da und schrie mich ohne Begrüßung an. Sie zerrte mich aus der Wohnung und bestand darauf sofort zu ihrem Auto mitzukommen. „Da, schauen sie sich das an, völlig zerkratzt, ich habe sie beobachtet, das waren sie!“ Ich wusste gar nicht wie mir geschah und hörte mir ihre Vorwürfe an. „Ich komme grad´ von der Waschstraße, das Auto war perfekt und jetzt die schwarzen Kratzer von ihrem Auto!“, schrie sie weiter. Ich war mir zwar nicht sicher, ob ich ihr Fahrzeug berührt hatte, oder nicht, aber ich entschuldigte mich höflich. Sie drückte mir ein Exemplar des Unfallberichtes in die Hand, verschwand wütend und die Tür zuknallend in ihrer Wohnung. Ich setzte mich und begann den Bogen auszufüllen. Kaum hatte ich Name und Adresse eingetragen, klingelte es abermals. „Gebens ma den Wisch wieda!“ „I was wie des is, ois Anfängerin, mei Tochta hot a nonet lang den Führerschein, nua Schererein!“ Sie riss mir das Formular aus der Hand und zerstückelte es in winzig kleine Teile. Ich bedankte mich fast demütig und wollte eigentlich schon wieder die Türe schließen. Doch sie begann plötzlich in einem fast weichen Ton in ihrer Stimme, am Stück aus ihrem Leben zu erzählen. Sie ließ sich über die anderen Hausbewohner aus, riet mir von dem einem oder anderen Kontakt zu dieser oder jener Person ab. Auf gar keinen Fall sollte ich mich mit den Leuten gegenüber in der Reihenhaussiedlung abgeben. „Alles reiche präpotente Schnösel“, sagte sie mit vollster Überzeugung. Ja, weil wir im Gemeindebau zusammen halten müssen. Es pfeift sich doch eh niemand darum, wie es uns Alleinerziehenden Frauen geht. Und überhaupt, sei sie ohnehin schon seit Jahren an Krebs erkrankt. Da kam eine ihrer beiden Teenagertöchter beim Haustor herein. Dieses Mädchen verwendete derart viel Parfüm, dass das Stiegenhaus drei Tage danach roch. Ihre Haare und ihr Makeup waren dementsprechend auch nicht gerade dezent. Meine Nachbarin wandte sich von mir ab und lotste ihre Tochter in die Wohnung und rief mir noch ein: „Nix fia unguat!“ zu. Die Türe schloss sich, meine ebenso. Nun wusste ich Bescheid, wie das so läuft in diesem Haus, in diesem Viertel! Einmal kam sie mit einem Stapel Vorhänge, weil sie festgestellt hat, dass ich keine hätte. Ich bedankte mich höflich. Aufgehängt habe ich sie nicht, weil ich keine Gardinen mag und weil ihr gut gemeintes Geschenk wohl im selben Parfüm wie ihre Tochter gewaschen wurde.

Es gibt da noch ein älteres Ehepaar im ersten Stock. Sie eine Plaudertasche, deren Gespräche ich  im Sommer immer auf dem Balkon mit verfolgen konnte. Ihr Mann sprach kaum etwas. Im zweiten Stock ein sehr elegante Dame, die sehr selten zu Hause war, deren Mann mehr mit seinem Oldtimer-Mercedes beschäftigt war, als mit ihr. Wie ich zu diesem Schluss komme? Als er starb blühte sie auf, und sie erzählte mir hinter her vorgehaltener Hand, dass er schwerer Alkoholiker war. Und ich könnte froh sein, meinen Mann los zu sein. Die andere Bewohnerin im zweiten Stock lebte ebenfalls, so wie ich mit ihrem Sohn zusammen. Beide auffällig weiße Haare und immer mit gesenkten Blick. Im obersten, dritten Stockwerk ein sehr alternativ auffälliges Paar, beide im Sechzigerlook unterwegs. Sie fuhren mit einem uralten Jeep herum. Bei den Leuten über mir, war ich mir nie sicher, ob die da wirklich wohnen, oder ob sie nur ab und zu vorbei kamen und nach dem Rechten sahen.

Lange Zeit war ich die jüngste Bewohnerin. Im Laufe der letzten Jahre starben mittlerweile 3 Hausbewohner. Auch die an Krebs erkrankte direkte Nachbarin. Innerhalb von kürzester Zeit war die Wohnung leergeräumt, renoviert und ein junges Ehepaar mit einer kleinen Tochter zog ein.

Irgendwie war es mir bisher nicht wirklich gelungen, regelmäßigen Kontakt zu den Leuten zu halten. Darum dachte ich mir, vielleicht klappt es ja mit den neuen Nachbarn. Deshalb stellte ich mich bei ihnen vor und brachte für das kleine Mädchen ein Geschenk mit. Sie bedankten sich höflich. Manchmal traf man sich am Gang oder im Hof und führte Small-Talk, das war es dann auch schon.

Ich wollte das einfach nicht akzeptieren. Das kann doch nicht sein, bin ich so unsympathisch, oder woran liegt es? Einmal hatte ich für jeden der Mitbewohner zu Faschingsbeginn einen Krapfen nett verpackt an jede Wohnungstür gehängt, mit lieben Grüßen natürlich. Als ich meine Küche renovieren ließ, warnte ich die Mitbewohner mit einem freundlichen Schreiben vor. Ich bat sie um ihr Verständnis, für das erhöhte Lärmaufkommen. Es wurde wohl zur Kenntnis genommen, denke ich. Kurzfristig gab es vermehrt Kontakt, den mein damaliger Kater arrangiert hatte. Der hatte die Angewohnheit sich den ganzen Tag draußen herum zu treiben. Wenn er dann wieder nach Hause wollte, lief er den heimkommenden Hausbewohnern hinterher. Er wusste genau, wer ihm die Türe öffnen würde. Die Leute klingelten kurz bei mir, riefen kurz:“George ist da!“ und gingen in ihre Wohnung. Und wenn man sich traf, erzählten sie mir wie begeistert sie von diesem schlauen Kerl sind.

2011 habe ich begonnen mein Schlafzimmer zu renovieren, was natürlich wieder mit Lärm verbunden war. Selbstverständlich brachte ich wieder einen Schreiben an der Informationstafel am Gang an. Zusätzlich auch noch ein kleines Brieferl für jeden der 7 Mitbewohner. Das Zimmer war längst fertig, da flatterte eines Tages ein Schreiben von Wohnpartner Wien ins Haus. Darin wurde ich aufgefordert zu einem bestimmten Termin, aufgrund einer Beschwerde einer Hausbewohnerin, zu erscheinen. Ich war sprachlos, und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, worum es ging.

Wohnpartner Wien betreut Hausbewohner in den Gemeindebauten, versucht vorwiegend Streitigkeiten zu schlichten (Konfliktmanagement), und durch Aktivitäten die gute Nachbarschaft zu fördern. Ich ging also völlig ahnungslos zu meinem Termin und war sehr gespannt, worum es ging. Die Dame erzählte mir, dass sich meine Nachbarin aus dem 2. Stock über mehrfaches Lärmen beklagt habe. Ich war sprachlos und gleichzeitig entsetzt. „Das verstehe ich jetzt nicht, wieso hat sie mir das nicht persönlich mitgeteilt, wir sind ja nicht zerstritten, im Gegenteil, sie hatte doch ab und an meinen Strawanzer-Kater in ihrem Keller gefüttert“ Das wusste ich lange gar nicht, bis es mir ihr Sohn erzählt hatte. Und der war ohnehin immer sehr zuvorkommend und höflich zu mir. Die Betreuerin konnte das auch nicht begründen. „Wie soll ich jetzt vorgehen, nun ich werde mich bei ihr persönlich entschuldigen.“, sagte ich. „Nein, das möchte sie nicht, wir von WP werden das tun“

Äußerst seltsam, aber ich musste es wohl hinnehmen. Ich war meiner Mitbewohnerin nicht böse, aber verstehen konnte ich es nicht. Die junge Dame von WP plauderte noch ein wenig mit mir und ich erzählte ihr von meinen Bildern die ich male. Sie war sehr interessiert. Und so kam es dazu, dass ich in den Räumlichkeiten der Beratungsstelle meine allererste größere Vernissage veranstalten durfte. Mit Musik, Buffet, Kurzbesuch vom Bezirksvorsteher. Dieser überreichte mir höflich einen Blumenstrauß mit den Worten:“Wieso eigentlich Bluesanne, bei diesen roten Haaren?“ Ein wirklich gelungener Abend mit meinem Sohn, allen meinen liebsten Freunden und eine Reihe neugieriger mir unbekannter aber interessierte Menschen. Von den Hausbewohnern kam lediglich das junge Nachbarehepaar samt jungen Töchterchen. Jeder einzelne hatte zuvor von mir eine persönliche Einladung bekommen.

Bis heute erhalten sie von mir bei jeder meiner Veranstaltungen eine Einladung. Wenn ich die Leute treffe, lade ich sie ein, einfach bei mir zu klingeln, sie alle sind herzlich willkommen. Fast dreißig Jahre wohne ich hier, und niemand von diesen Leuten hat je meine Einladung angenommen. Woran liegt das? An mir? An den Leuten? Desinteresse? An meiner Wohnungstüre hängt ein Logo samt Website-Adresse in einem schönen Holzrahmen. Vielleicht interessiert es ja doch noch mal irgendwem im Haus. Die nachfolgenden Mieter?

In den letzten drei Jahren habe ich mich sehr zurück gezogen, hauptsächlich wegen meiner Erkrankung aber auch weil mich diese Teilnahmslosigkeit irritiert. Natürlich könnte ich jetzt sagen:“Wer nicht will, der hat schon“ und ich muss es wohl auch akzeptieren. Doch es beschäftigt mich nach wie vor. Nicht nur die MitHausBewohner, auch viele andere Begebenheiten, wo ich meine Gastfreundschaft bekunde aber diese kaum bis gar nicht erwidert wird. Was denken die Leute über mich? Ich sehe doch nicht wie ein gefährlicher geistesgestörter Straftäter aus? Ja, ein wenig spinnen tu ich schon, aber Gefahr ging nie von mir aus. Liegt es daran, dass ich rauche? Liegt es daran, dass ich Fleisch und tierische Produkte verspeise? Liegt es an meiner Einrichtung? Na bevor sie nicht bei mir waren, können sie ja nicht wissen, wie es bei mir aussieht. Ja ab gewohnt, das Bad ist seit 2 Jahren eine Baustelle, die WC-Türe schließt nicht, auch der Lichtschalter ist desolat. Die Katzen vielleicht? Die tun nichts, höchstens schmusen. Stinkt es womöglich? Mein Geschirr ist sauber, wenn ich Kaffee und Kuchen serviere. Und den Rest der Räumlichkeiten halte ich so gut ich halt kann sauber. Ist es die Wohngegend? Vielleicht liegt es in diesem Fall tatsächlich nicht an mir, sondern an den Anderen, der Grant-Nation? Vielleicht sitzen sie jetzt ebenfalls alleine Daheim, schreiben sich ihre Finger wund an den Laptops, Computern, Handys, Smart-Phones, I-Pads und was es sonst so fürs Internetzen gibt.

Beklagen und fragen sich jetzt, warum kommt niemand zu mir auf Besuch?

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