Mittwoch, 21. November 2018

Mamsell Lilly ChatBleu

NatureGirl


Einmal im Jahr musste sie dort hin, und jedes Mal überkam sie ein mulmiges Gefühl. Vollständig in unscheinbaren grau gekleidet stieg sie in den schwarzen Wagen mit verdunkelten Scheiben. Es schien nur wenig die Sonne, dennoch hatte sie ihre smaragdgrünen Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt. So konnten diese sich langsam an den Anblick, der sie am Ziel ihrer Fahrt erwartete, gewöhnen. Bis dahin genoss sie noch die bunte Vielfalt der Landschaft. Viele kleine Häuser in grünen Wiesen eingebettet. Farbige Holzzäune umrahmten die schmucken Gärten von all diesen Wohnsitzen. Sie beobachte einige Menschen wie diese fleißig in der Erde herum gruben oder von den Obstbäumen die Früchte ernteten. Gerne wäre sie da und dort stehen geblieben um Obst oder Gemüse zu holen, doch dort wo sie hinfuhr, war es streng verboten natürliche Produkte mit zunehmen.

Umso länger sie unterwegs war, desto starrer und lebloser wurde ihr Gesicht. Die Verwandlung von einem lebendigen Menschen zu einem völlig anderen Wesen war bei jeder Reise nach Graumania eine Qual. Sie bemerkte wie auch ihre Gedanken von Mal zu Mal trostloser wurden. Die Strecke wurde immer farbloser und mit einem Mal gab es lediglich Grau zu sehen. Kein bunten Häuser, keine Wiesen, keine Bäume, keine Menschen. Das Nichts an  Flächen verschmolz in eine fahle karge Wüste in Grau. Das Grau war ohne Energie und Motivation. Diesen Teil der Fahrt konnte sie nur mithilfe des Navigationsgerätes bewältigen. Es gab keinerlei optische Anhaltspunkte auf dem Rest der Strecke. Längst waren auch die letzten emotionalen Regungen aus ihrem Körper gewichen. In Sichtweite war auch schon die graue Stadt auszumachen.

In Schrittgeschwindigkeit durchfuhr sie die unsichtbaren Lichtschranken mit ihrem schwarzen Auto. Sie parkte gleich nach der Grenze in einer der vorgesehen Metallboxen. Ein letzter Blick in den Spiegel bevor sie ausstieg. Nichts durfte sie verraten, dass sie keine Bewohnerin von Graumania war. Sie holte eine graue Karte aus ihrer Handtasche und steckte diese in den Schlitz eines kleinen Automaten an einer Rolltreppe. Das Gerät blinkte und sie betrat die fahrbaren Stufen. Da waren auch schon die ersten Wesen von Graumania. Leblose Figuren, alle in graue unscheinbare Anzüge gesteckt. Die toten Augen starr in Fahrtrichtung der Rolltreppe gerichtet. Am liebsten hätte sie den Rückweg angetreten, doch das war jetzt nicht mehr möglich. Sie musste in dieses Gebäude, wo ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängert wurde.
Doch dieser eine Tag im Jahr machte ihr jedes Mal bewusst, wie dankbar sie sein konnte, nicht hier sondern in Arcobalenio zu leben. Das war sicherlich auch der Verdienst ihrer Urgroßmutter gewesen. Diese hatte sich damals geweigert ihr Anwesen im Grünen zu verlassen. Trotz des offiziellen Verbotes weiter in der freien Natur zu leben, blieb sie in ihrer kleinen Hütte. Sie glaubte nicht an die Gefahr die laut der Verwaltung von Graumania ausgesprochen wurde. „Wie kann Natur schädlich sein?“, meinte sie empört.
Damals mussten sich die Menschen entscheiden, ob sie in die graue Stadt zogen oder eben Draußen blieben. Die Wahl war für die Meisten ein Leichtes. In der Stadt gab es alle Vorzüge für ein gutfunktionierendes Leben. Es wurde für einen Wohnsitz, Einkommen und viele andere Annehmlichkeiten gesorgt. Zu Beginn dieser Übersiedlungsaktion gab es zwar noch einige Zweifler, doch immer mehr Menschen zogen in die Stadt. Kaum jemand konnte das wahre Ausmaß dieser Entscheidung vorausahnen. Aber das war im Laufe der Zeit egal geworden, denn niemand bekam dies bewusst mit. Die Veränderung von einem lebendigen, eigenständigen Menschen zu einem Graumanier war schleichend jedoch sehr frappant.
Die Stadt funktionierte. Niemand hatte ernsthafte Sorgen, weil alle dieselben Voraussetzungen zum Leben hatten. Der Lebensplan war von Geburt an fix vorgegeben. Jeder neugeborene Einwohner wurde je nach Bedarf für das Kollektiv programmiert. Ein perfekt durchdachtes System. Alle Bewohner hatten ausreichend Nahrung, genügend Wohnraum und Arbeit war ebenfalls für jeden vorhanden. Zahlungsmittel, im Sinne von Geld gab ist nicht mehr. Es war nicht mehr notwendig, weil ja ohnehin alle auf dem gleichen Level standen. Die Existenzen waren gesichert und das Projekt Graumania lief wie ein Uhrwerk. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Veränderungen gab es nie.
Lillys Urgroßmutter liebte es schon immer, so unabhängig wie nur möglich zu leben. Für sie kam es nicht in Frage in einer Stadt zu leben, wo sie keinerlei Entscheidungen mehr alleine treffen durfte. Auch nicht im Tausch für die absolute Sicherheit und Vorsorge. Sie ahnte damals, dass die ganze Sache einen Haken haben musste. Und sie hatte Recht behalten. Der Preis für all die scheinbare Unbeschwertheit war ein hoher.
Die Wesen in Graumania hatten keine eigenen Gedanken mehr, weil es nichts gab, worüber sie sich den Kopf zerbrechen mussten. Sie mussten auch nicht überlegen, ob sie alleine blieben oder eine Familie gründen. Das wurde je nach Bedarf für das perfekte Funktionieren der Stadt programmiert. Die Nachkommen lebten von Geburt an in ihrer vorgegebenen Rolle. Sie hatten keinen Grund Dinge zu hinterfragen. Fragen gab es ohnehin überhaupt keine mehr. Das gesamte Dasein war klar und vorhersehbar durchgeplant.
Im Laufe der Jahrzehnte verkümmerten somit auch die Gefühle und Emotionen. Es gab ja auch keinen Anlass mehr traurig, wütend, ängstlich oder neugierig zu sein. Zuneigung und Liebe waren genauso nicht mehr notwendig. Die Zeiten von körperlicher Nähe waren ebenso Geschichte. Die Nachkommen wurden in einem Labor produziert. Die zueinander passenden weiblichen und männlichen Wesen kamen zu dem vorgesehenen Zeitpunkt in das Fortpflanzungsinstitut. Hier war sozusagen auch das Planungsamt für den organisierten Lebensentwurf. Tadellos und einwandfrei für Graumania. Ein in sich autarkes und in sich geschlossenes System.
Jedoch ohne lebendige Wesen. Ausschließlich Funktionsträger für die Gesamtheit. Lilly musste all ihre Kraft in Anspruch nehmen, um nicht in Tränen auszubrechen. Der Anblick und die Stimmung in dieser grauen Stadt sind einfach zu grausam. Sie legte ihre mitgebrachte graue Karte in das nächste elektronische Gerät und wartete auf ein Signal. Es zeigte an, dass ihr Antrag bewilligt wurde. Erleichtert sah sie das blinkende Licht und schnappte ihre Karte. Manchmal wollte sie mit den Wesen Kontakt aufnehmen, doch sie wusste es macht keinen Sinn. Keiner würde sie ernst nehmen, aber vor allem musste sie Angst haben, dass sie nicht mehr zurück durfte.
Zurück in ihr Paradies.
In Arcobalenio, wo sie denken durfte. Dort wo sie täglich viele Stunden in ihrem Garten arbeitete. Wo es Tiere und Pflanzen gab. Es lebten nicht allzu viele Menschen in der bunten Welt. Aber die hier wohnten, waren dankbar für jeden Tag, den sie lebten. Mit all den Emotionen die dazu gehörten.
Lilly stieg aus ihren Wagen, zog ihre Schuhe aus und lief barfuß durch die feuchte grüne Wiese. Kurz kniete sie nieder und streichelte die frischen Halme. Tief atmete sie den Duft der Natur ein und presste die letzten Reste von der sterilen Luft aus Graumania aus ihren Lungen.
Mademoiselle Lilly Chat Bleu war glücklich, selbst wenn sie traurig war.
(verfasst am 12.02.2015©(Bluesanne)


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